Cover
Titel
Japans Karneval der Krise. Ejanaika und die Meiji-Renovation


Autor(en)
Zöllner, Reinhard
Reihe
Erfurter Reihe zur Geschichte Asiens 6
Erschienen
München 2003: Iudicium-Verlag
Anzahl Seiten
497 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Vollmer, Japan-Zentrum, Ludwig-Maximilians-Universität München

Im November des Jahres 1867 notierte der Leibarzt des letzten japanischen Shôgun in einem Brief an seinen Bruder, dass „es in ganz Kyôto Amulette, Münzen und Standbilder („regne“). Die betroffenen Häuser hätten Leckereien, Sake und Reiskuchen geopfert und mit Verwandten, Freunden und Nachbarn bei Kerzenschein gefeiert. [...] Die Viertel seien hell erleuchtet. Man tanze in abgestimmten Kostümen aus Seidenkrepp oder nach Belieben, auch Männer als Frauen und Frauen als Männer sowie alte Frauen als junge Mädchen verkleidet, singe und dringe tanzend (auch nachts) in Häuser ein, gleichgültig, ob dort gerade ein Amulett herabgestiegen sei oder nicht. Dabei ließen Arm und Reich, Hoch und Niedrig unterschiedslos die Arbeit ruhen und feierten unter freiem Himmel. Beamten der Stadtverwaltung, die das Chaos zu bändigen versuchten, schenke man kein Gehör, sondern umzingele und nötige sie zum Mittanzen. Es gehe zu, als ob alle von Sinnen seien.“ (S. 163) Dass die tanzenden Massen dazu oft anzügliche Lieder sangen, die mit dem Refrain „wird schon recht sein“ (japanisch „êjanaika“, „yoijanaika“ oder ähnlich) endete, hat diesem karnevalesken Massenphänomen zwischen Sommer 1867 und Frühsommer 1868 seinen Namen gegeben. Damit fällt dieses Ereignis chronologisch mit dem Beginn der Meiji-Zeit (1868-1912) zusammen, wohl eine der einschneidensten Zäsuren in der neueren japanischen Geschichte. Wie die vorliegende Studie eindrücklich belegt, nahm Êjanaika weite Teile der japanischen Gesellschaft derart intensiv in Anspruch, dass auch die Forschung seit über hundert Jahren immer wieder an Deutungen dieses Geschehens gearbeitet und seine Rolle im Kontext der soziopolitischen Umbrüche am Ende der Shôgunatszeit in zum Teil sehr unterschiedlicher Weise interpretiert hat. Welches waren die Auslöser, wo lagen die Hintergründe, welche Folgen zeitigte Êjanaika?

Auf solche Fragen versucht die umfangreiche, eine Fülle von Lokalquellen akribisch aufarbeitende Monografie von Reinhard Zöllner eine Antwort zu geben. Und in der Tat leistet die auf der 1997 angenommenen Habilitationsschrift des Erfurter Historikers beruhende Arbeit eine umfassende Bestandsaufnahme, die sich als mikrohistorisch angelegte Studie auf einen beeindruckenden Korpus von lokalen Quellen stützt, von denen zahlreiche ungedruckt und bisher von der Forschung allenfalls am Rande gewürdigt worden sind. Sie ist mit Engagement und gut lesbar geschrieben, wenngleich der Anspruch nach anschaulicher Darstellung mehr als einmal zu stilistisch unglücklichen oder unpassenden Wendungen führt. Schon vom Umfang her steht die Dokumentation und Nacherzählung der lokalen Ereignisse um Êjanaika klar im Mittelpunkt der Arbeit. Auf etwa 330 Seiten wird auf der Basis der Auswertung von Briefen, privaten Chroniken, Tagebüchern, Aufzeichnungen lokaler Verwaltungen und anderen Materialien ein detailliertes Bild entworfen, wie sich die Êjanaika-Feiern von der Handelsmetropole Ôsaka ausgehend entlang der Hauptverkehrswege in Zentral- und Westjapan ausbreiteten und schließlich Ostjapan sowie den Norden der Insel Kyûshû erreichten. Die Ordnung des Textes selbst folgt dieser geografischen Entfaltung des Êjanaika-Phänomens und so lesen wir, den von Zöllner aufbereiteten Quellen gewissermaßen von Provinz zu Provinz folgend, in immer wieder neuen Varianten vom Ausbruch und Verlauf der Festlichkeiten. Hier eröffnet sich ein reiches Panoptikum des Lebens der japanischen Bevölkerung am Ende der Tokugawa-Zeit, so dass dieser Teil auch für Forschende zur Lokal- oder Regionalgeschichte Japans vielfältige Aufschlüsse hinsichtlich Alltag, Kleidung, Nahrung, Preisen, religiösen Praktiken und anderem bereithält. Allerdings mag nach zwanzig oder dreißig (von über vierzig) regionalen Varianten des Êjanaika-Geschehens selbst den hartnäckigen Liebhaber einer quellennahen Untersuchung eine gewisse Ermüdung befallen, zu sehr ähnelt sich doch oft der Ablauf der Ereignisse. So ist zum Aufbau dieser Studie generell zu fragen, ob die strikte Anordnung des Materials nach dem formalen Kriterium der regionalen Verbreitung glücklich gewählt ist. Gewiss, in einem zweiten, vom Umfang her allerdings deutlich kleineren Teil (S. 349-454) wird unter der Überschrift „Die fröhliche Welt des Êjanaika“ die systematische Analyse der Quellen nachgeliefert. Doch angesichts der im Dickicht der Details versteckten, zum Verständnis des Gesamtphänomens oft entscheidenden Einzelbefunde und Teilananlysen, hätte man sich hier oft eine stärker strukturierende Erzählung gewünscht, die nicht allein auf das Ordnungskriterium der regionalen Verbreitung vertraut. Überdies finden sich im ersten Teil längere Erörterungen zu Aspekten der Rezeption und Verbreitung von Êjanaika, auf die man vielleicht bei der systematischen Durchsicht des ausführlichen Registers (S. 487-497) stoßen mag, für die die Aufteilung der ersten gut dreihundert Seiten des Buches aber keinen Anhaltspunkt liefert. Ein Beispiel wäre die zum Teil sehr ausführliche und anregende, wenn auch im Ergebnis nicht immer ganz überzeugende Analyse der zeitgenössischen bildlichen Darstellungen des Êjanaika-Geschehens. Mit Recht hat Zöllner auf die Bedeutung der medialen Vermittlung und Rezeption von Êjanaika, zumal in Großstädten wie Ôsaka, hingewiesen und geht ausführlich (S. 192 ff., 212 ff., 283 ff., 305 ff.) auf verschiedene Beispiele von Blockdrucken und Zeichnungen ein. Hätte es sich da nicht angeboten, Einsichten aus der Interpretation dieser Bilder in einem eigenen Kapitel zu bündeln und einer tiefer gehenden Analyse zu unterziehen?

Im letzten Drittel des Buches wird nun der Versuch unternommen, das zuvor ausgebreitete Material anhand analytischer Kriterien und Fragestellungen in den Griff zu bekommen. Schon aufgrund der Komplexität des Phänomens, der relativen Kürze dieses Teils und des Anspruchs, eine umfassende Antwort zu geben, kann dieses Verfahren nicht in jedem Fall voll überzeugen. Neben einer ausgezeichneten Zusammenfassung und Gewichtung der zuvor gewonnenen Quellenbefunde findet sich hier auch ein mehr oder weniger ausführliches Referat des Forschungsstandes zu den in diesem Teil behandelten Einzelfragen. Dazu gehören Überlegungen zur Bedeutung des Begriffes „Êjanaika“, der räumlichen Verbreitung und zeitlichen Entwicklung der unter diesem Schlagwort geführten Feierlichkeiten; weiter führt dann die Analyse der einzelnen Komponenten von Êjanaika („Amulettregen“, „häusliche Feiern“, „gemeindliche Feste“, „Wallfahrten“, „allgemeine Unruhe“, „obrigkeitliche Gegenmaßnahmen“) und die Klärung der Frage der unmittelbaren Anlässe zur Entwicklung eines kohärenten „Êjanaika-Ablaufdiagramms“ (S. 389). Sehr plausibel kann Zöllner in diesem Zusammenhang sozioökonomische Faktoren als unmittelbare Auslöser für Êjanaika herausarbeiten (etwa die 1867 stark fallenden Reispreise), welches so in vielen Fällen als „ein Freudenfest im Fetten Jahr“ (S. 413) seinen Anfang nahm. Auf dem Hintergrund der in der japanischen Geschichtswissenschaft kontrovers diskutierten Frage nach der Symptomatik von Êjanaika und seinen möglichen politischen Folgen lesen sich die präsentierten Antworten Zöllners überzeugend: Schon aus der Analyse der „obrigkeitlichen Gegenmaßnahmen“ war hervorgegangen, dass Êjanaika-Aktivitäten zwar die lokalen Behörden mitunter in Atem hielten, auch zu Warnungen und Verboten führten, aber „zu keiner Zeit als ein Problem hochpolitischen Ranges, das der zentralen Regelung bedurfte, eingeschätzt wurde“ (S. 390f.). Während etwa E.H. Norman und Inoue Kiyoshi nach 1945 die auch später häufig variierte These vertraten, dass das Tokugawa-Regime durch Êjanaika entscheidend geschwächt und gelähmt worden sei, betont Zöllner eher die psychologischen Effekte von Êjanaika, so dass die durch die orgiastischen, von Ritualen der Statusumkehrung geprägten Tänze der Massen „das Bewußtsein eines unmittelbar bevorstehenden epochalen Wandels enorm schärfte und auf seine Weise in der gesamten Gesellschaft verbreitete“ (S. 439).

Wer aber profitierte vom „Amulettregen“, von den tagelangen Feiern, während die Arbeit ruhte? Wer musste die Zeche bezahlen? Die von Zöllner im Kontext seiner soziologischen Betrachtungen gewonnenen Befunde erhärten die bereits in den 1980er Jahren von der japanischen Forschung geäußerte Vermutung, dass insbesondere Jugendliche als „Planer, Förderer und Teilnehmer“ (S. 418) von Êjanaika-Aktivitäten zu vermuten sind. Zu den Profiteuren der Feste gehörten – wie schon die Zeitgenossen erkannten – „Kleider-, Sake- und Delikatessenhändler [...]; aber auch Geschäfte für Festzubehör wie Kerzen, Hausaltäre, Lampenöl“ (S. 423). Schließlich sind in diesem Zusammenhang auch die zahlreichen Funktionäre religiöser Verbände und Gruppen zu nennen und es gelingt Zöllner äußerst plausibel, ein besonderes Interesse der als Exorzisten und Heilkundigen tätigen Bergasketen (Yamabushi) wahrscheinlich zu machen, die von dem mit den Dankwallfahrten verbundenen „religiösen Tourismus“ im Anschluss an den „Amulettregen“ profitierten.

So lässt sich konstatieren, dass diese Analyse immer dort von besonderer Kohärenz ist, wo sie die Ergebnisse der Quellenbefunde gewichtet und unter Berücksichtigung des bisherigen Forschungsstandes interpretiert. Dabei gelingen aufgrund der Breite der Quellenbasis oft überzeugende und neu akzentuierende Interpretationen. Über das engere Umfeld des Êjanaika-Geschehens werden wir so denkbar erschöpfend informiert. Sobald jedoch der Blick auf den weiteren Kontext – historisch, geografisch, interkulturell – geworfen wird, hätte man sich von diesem Teil der Studie mehr erwartet. So wirkt der auf wenigen Seiten angestellte Vergleich zwischen Êjanaika und den etwa zeitgleichen Taiping- und Tonghak-Aufständen in China bzw. Korea erzwungen – auch bei nur oberflächlicher Kenntnis der ostasiatischen Geschichte dürfte von vornherein klar sein, dass Motive und Hintergründe dieser blutigen Rebellionen von denen Êjanaikas denkbar verschieden sind. Warum also dieser überflüssige Vergleich? Zwar geht Zöllner in diesem Abschnitt („Traditionen“, S. 440-451) auch kurz auf die Geschichte der Dankwallfahrten und Danktänze in Japan ein, doch bleibt er auch hier bei den unmittelbaren Vorläufern von Êjanaika stehen. Aber die Verbindung von Tanz, Politik und Massenprotest hat in Japan eine längere Tradition: Erinnert sei nur an die „Dengaku-Hysterie“ im späten 11. Jahrhundert, die etwa von Jacob Raz untersucht worden ist.1 Und welche Beziehungen könnten zwischen der seit dem Altertum gepflegten orgiastischen Tanztradition des volkstümlichen Buddhismus und Êjanaika-Praktiken bestehen? Wer sich von dem überaus treffend gewählten Titel „Japans Karneval der Krise“ angezogen gefühlt hatte, wird wohl enttäuscht sein, bis zur Seite 448 warten zu müssen, um erstmals den Namen Michail Bachtins zu lesen. Und mehr als ein etwa dreiseitiges Kurzreferat der einschlägig bekannten Forschungen von Bachtin, LeRoy Ladurie und Scribner zu Karneval und europäischer Volkskultur findet sich hier nicht (es ist bezeichnend, dass diese Namen und die Titel der zitierten Werke im Literaturverzeichnis gar nicht auftauchen). Dass auch weitergehende theoretische Konzeptionen zur Struktur karnevalesker Ereignisse oder Rituale der Statusumkehr (etwa Victor Turner) keine Erwähnung finden, überrascht dann nicht mehr. Allerdings bietet der Materialreichtum der hier vorgelegten Studie und das auf dieser Grundlage entworfene Bild eines „japanischen Karnevals“ so viele Anknüpfungspunkte, dass sie als Anregung für künftige, auch kulturvergleichende Arbeiten dienen kann. Und im Kontext der Japanforschung wird die Monografie aufgrund ihrer minutiösen Rekonstruktion von Êjanaika allemal ein wichtiger Beitrag zu Geschichte, Alltag und religiöser Kultur im letzten Jahr des Tokugawa-Shôgunats bleiben.

Anmerkungen:
1 Raz, Jacob, Popular Entertainment and Politics. The Great ‘Dengaku’ of 1096”, Monumenta Nipponica 40/3 (1985), S. 283-298.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension